Zeilensprung im Gedicht: Beispiele, Wirkung als Stilmittel

Ein Zeilensprung ist ein Stilmittel, bei dem ein Satz oder Gedanke über die Versgrenze hinausgeht. Es kommt vor allem in Gedichten vor und wird auch ‚Enjambement‘ genannt.

Beispiel: Zeilensprung
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

(Bertolt Brecht, „Der Radwechsel“)

Die Funktion eines Zeilensprungs besteht darin, zwei Verse miteinander zu verbinden.

Ein Zeilensprung lockert somit den ‚Zeilenstil‘ auf, der in vielen Gedichten vorherrscht. Beim Zeilenstil fallen Satz- und Versende zusammen.

Die Abweichung von der Norm des Zeilenstils bewirkt dabei zugleich eine Hervorhebung von Versende und -anfang.

Beachte
In der Gedichtanalyse wird anstelle von ‚Zeilensprung‘ meist der Begriff ‚Enjambement‘ verwendet. Er kommt aus dem Französischen und leitet sich von dem Verb ‚enjamber‘ (= ‚überspringen‘) ab. Als Fachbegriff wird ‚Enjambement‘ in der Regel bevorzugt.

Zeilensprung als Stilmittel: Wirkung

Beim Zeilensprung wird ein Satz oder Gedanke über die Versgrenze hinaus fortgesetzt.

Der in vielen Gedichten vorherrschende ‚Zeilenstil‘, bei dem Satz- und Versende zusammenfallen, wird dadurch aufgelockert und Versende und -anfang werden hervorgehoben.

Diese beiden Wirkungen (Auflockerung des Zeilenstils und und Hervorhebung von Versende und -anfang) gelten für alle Zeilensprünge.

Darüber hinaus können Zeilensprünge jedoch noch weitere Wirkungen erzielen, zum Beispiel:

Ob diese Wirkungen im Einzelfall vorliegen, lässt sich nur nach einer genaueren Analyse bestimmen, die auch inhaltliche Aspekte berücksichtigt.

Spannung aufbauen

Eine mögliche Wirkung des Zeilensprungs besteht darin, Spannung aufzubauen.

Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Vers eine spannungsvolle Situation beschreibt, die Auflösung dann jedoch erst im nächsten (oder übernächsten) Vers folgt.

Ein Zeilensprung funktioniert hier so ähnlich wie ein ‚Cliffhanger‘ im Film, bei dem man die Auflösung ebenfalls erst in der nächsten Szene oder Folge erfährt.

Beispiel: Spannung aufbauen mit Zeilensprung
Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun ↩
↪ Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun ↩
↪ Hat aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret.

(Andreas Gryphius, „Tränen des Vaterlandes“, Strophe 1)

In diesem Beispiel werden gleich zwei Zeilensprünge zum Spannungsaufbau eingesetzt.

Im zweiten und dritten Vers der Strophe werden verschiedene Dinge aufgezählt, die sinnbildlich für Krieg stehen und Unheil ankündigen.

Worin genau dieses Unheil besteht, wird dann jedoch erst im vierten und letzten Vers der Strophe aufgelöst.

Pointen setzen

In ähnlicher Weise können Zeilensprünge auch dazu genutzt werden, Pointen zu setzen oder zu verstärken.

In diesem Fall wird ein angefangener Satz im nächsten Vers auf überraschende, erhellende oder komische Weise fortgesetzt.

Beispiel 1: Pointen setzen mit Zeilensprung
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster ↩
↪ zwischen die Zähne geklemmt.

(Gottfried Benn, „Kleine Aster“, Vers 1–3)

Man erwartet, wenn man den zweiten Vers liest, dass die ‚Aster‘ (eine Blume) dem toten Bierfahrer auf die Brust gelegt oder ins Knopfloch gesteckt wurde, wie es manchmal bei Bestattungen gemacht wird.

Stattdessen wurde sie ihm jedoch ‚zwischen die Zähne geklemmt‘. Durch die kurze Sprechpause am Versende wird diese überraschende Wendung hinausgezögert und ihre makaber-komische Wirkung verstärkt.

Im folgenden Beispiel von Else-Lasker Schüler funktioniert es ähnlich, wenn der Vers ‚Ich trage dich immer herum‘ durch ‚zwischen meinen Zähnen‘ ergänzt wird.

Beispiel 2: Pointen setzen mit Zeilensprung
Deine Tigeraugen sind süß geworden ↩
↪ In der Sonne.

Ich trage dich immer herum ↩
↪ Zwischen meinen Zähnen.

(Else Lasker-Schüler, „Giselher dem Tiger“, Strophe 2–3)

Lesefluss beschleunigen/verlangsamen

Zeilensprünge können den Lesefluss sowohl beschleunigen als auch verlangsamen.

Die kurze Sprechpause am Versende fällt bei Zeilensprüngen kürzer aus als normal, weil man weiterlesen muss, um den Satz zu verstehen. Der Lesefluss wird dadurch beschleunigt und die Dynamik zwischen den Versen gesteigert.

In dem folgenden Beispiel verstärken die Zeilensprünge so das inhaltliche Motiv eines stürmischen Morgens am Meer.

Beispiel: Lesefluss beschleunigen durch Zeilensprung
Mit schlaftrunkenen Vögeln ↩
↪ und winddurchschossenen Bäumen ↩
↪ steht der Tag auf, und das Meer ↩
↪ leert einen schäumen Becher auf ihn.

(Ingeborg Bachmann, „Freies Geleit (Aria II)“, Strophe 1)

Umgekehrt kann ein Zeilensprung den Lesefluss jedoch auch verlangsamen.

Dies gilt insbesondere für Zeilensprünge, die innerhalb eines Wortes erfolgen. Beim Lesen führt dies zu einer kurzen Irritation, man gerät ins Stocken.

Beispiel: Lesefluss verlangsamen/Stocken erzeugen durch Zeilensprung
Das vor euch, vom Osten her, Hin-
gewürfelte, furchtbar.

Niemand
zeugt für den
Zeugen.

(Paul Celan, „Aschenglorie“, Strophe 5–6)

Das Stocken am Versende lässt sich hier als das Zögern des (impliziten) lyrischen Ichs deuten, das angesichts des Furchtbaren selbst nach dem richtigen Wort sucht.

Beachte
Zeilensprünge, die innerhalb eines Wortes erfolgen, nennt man auch ‚morphologisches Enjambement‘. Darüber lassen sich glatte (schwache), harte (starke) und Strophen-Enjambements unterscheiden. Mehr zu dieser Unterscheidung verschiedener Arten von Zeilensprüngen erfährst du in unserem Artikel über das Enjambement.

Bildhafte Wirkung

Manchmal werden Zeilensprünge auch verwendet, um bildhafte Wirkungen zu erzeugen.

So spiegelt der Zeilensprung im folgenden Beispiel das inhaltliche Motiv des Werfens eines Balles. So wie die Mägde den Ball werfen, ‚wirft‘ der Dichter das Wort ‚werfen‘ über das Versende hinaus in den nächsten Vers.

Beispiel 1: bildhafte Wirkung erzeugen durch Zeilensprung
Originalfassung:

Saehe ich die megde an der strâze den bal
werfen, sô kaeme uns der vogele schal.

Hochdeutsch:

Säh’ ich die Mädchen am Wege den Ball
werfen, dann käme zurück auch der Vögel Gesang.

(Walther von der Vogelweide, „Uns hât der winter geschât über al“, Strophe 1;
ins Hochdeutsche übertragen von Hans Hegner)

Auch im folgenden Beispiel hat der Zeilensprung eine Wirkung, die am ehesten als bildhaft beschrieben werden kann.

Beispiel 2: bildhafte Wirkung erzeugen durch Zeilensprung
Nana verlor an Höhe,
das linke Triebwerk fiel aus, herum=
gerissen durch die Schubkraft des rechten,
kippte sie ab und zerschellte,
so jung, so blau,
so unzählige Lichtjahre weg.

(Paulus Böhmer, „Nana verlor an Höhe“, Strophe 1)

So wie Nanas Triebwerk herumgerissen wird, wird durch den Zeilensprung der Blick des Lesers/der Leserin vom Versende zum Anfang des nächsten Verses ‚herum / -gerissen‘.

Häufig gestellte Fragen zum Zeilensprung

Wie erkenne ich einen Zeilensprung?

Du erkennst einen Zeilensprung daran, dass ein angefangener Satz über die Versgrenze hinaus fortgesetzt und erst im nächsten Vers beendet wird.

Zeilensprünge kommen nur in Verstexten vor. Dazu zählen neben Gedichten auch Versdramen und Songtexte.

Welche Wirkung hat ein Zeilensprung?

Ein Zeilensprung lockert den in vielen Gedichten vorherrschenden ‚Zeilenstil‘ auf.

Darüber hinaus kann ein Zeilensprung als Stilmittel jedoch noch andere Wirkungen haben, zum Beispiel:

  • Spannung aufbauen
  • Pointen setzen
  • den Lesefluss beschleunigen oder verlangsamen
  • bildhafte Wirkung entfalten
Was ist ein Beispiel für einen Zeilensprung?

Das Gedicht „Der Radwechsel“ von Bertolt Brecht enthält einen Zeilensprung vom vorletzten zum letzten Vers:

Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Wie wird ein Zeilensprung auch genannt?

Ein Zeilensprung wird auch ‚Enjambement‘ genannt.

Der Ausdruck Enjambement kommt von dem französischen Verb ‚enjamber‘ (=überspringen) und wird in der Gedichtanalyse als Fachbegriff bevorzugt.

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Alexander Schnorbusch, M.A.

Alexander hat Philosophie und Literarisches Schreiben studiert und promoviert aktuell an der Hochschule für Philosophie München. Er schreibt über Grammatik, Stil und effektiven Sprachgebrauch.