Lyrisches Ich | einfach erklärt mit Beispielen

Das lyrische Ich ist der Sprecher oder die Sprecherin in einem Gedicht.

Es sollte nicht mit dem Autor oder der Autorin gleichgesetzt werden. Vielmehr ist das lyrische Ich eine fiktive Person, die der Autor oder die Autorin erschafft.

Beispiel: lyrisches Ich
Wohin ziehst du mich,
Fülle meines Herzens,
Gott des Rausches,
Welche Wälder, welche Klüfte
Durchstreif ich mit fremdem Mut …

(Novalis, „Wohin ziehst du mich“, 1802, Strophe 1)

Beachte
In ‚lyrisches Ich‘ wird das Personalpronomen ‚ich‘ als Substantiv gebraucht (= Substantivierung) und muss großgeschrieben werden.

Im Genitiv wird daraus ‚des lyrischen Ichs‘, z. B.: „Um die Gedanken des lyrischen Ichs nachzuvollziehen, ist es notwendig …“

Definition: Was ist ein lyrisches Ich?

Der Begriff lyrisches Ich bezeichnet den Sprecher oder die Sprecherin in einem Gedicht. Du erkennst es an den Wörtern ‚ich‘, ‚mir‘, ‚mich‘ oder ‚mein‘.

Beispiel: lyrisches Ich
Ich vernachlässige nicht die Schrift,
sondern mich.
Die anderen wissen sich
weißgott
mit den Worten zu helfen.
Ich bin nicht mein Assistent.

(Ingeborg Bachmann, „Keine Delikatessen“, 1968, Strophe 6)

Die Funktion des lyrischen Ichs in Gedichten ähnelt der des Erzählers in epischen Textformen wie Kurzgeschichten oder Novellen.

Bei einer Gedichtanalyse oder Gedichtinterpretation solltest du diese beiden Begriffe jedoch nicht verwechseln.

Gedichte haben ein lyrisches Ich, epische Texte haben einen Erzähler.

Lyrisches Ich vs. Erzähler
Gattung Sprecher-Instanz
Lyrik Lyrisches Ich
Epik Erzähler

Welche Arten von lyrischen Ichs gibt es?

Man unterscheidet zwei Arten von lyrischem Ich:

Explizites lyrisches Ich

Das explizite lyrische Ich erkennt man daran, dass im Gedicht das Personalpronomenich‘, das Possessivpronomenmein‘ oder die Reflexivpronomenmich‘/‚mir‘ vorkommen.

‚Explizit‘ bedeutet ‚ausdrücklich’ oder ‚deutlich‘. Das lyrische Ich ist hier also deutlich an den genannten Pronomen zu erkennen.

Beispiel: explizites lyrisches Ich
Der Himmel trägt im Wolkengürtel
Den gebogenen Mond.
Unter dem Sichelbild
Will ich in deiner Hand ruhn.
Immer muß ich wie der Sturm will,
Bin ein Meer ohne Strand.
Aber seit du meine Muscheln suchst,
Leuchtet mein Herz.

(Else Lasker Schüler, „Nur dich“, 1917, Strophe 1–4)

Eine Variante des expliziten lyrischen Ichs ist das lyrische Wir.

Hier spricht der Sprecher oder Sprecherin im Gedicht nicht nur für sich selbst, sondern für zwei oder mehr Personen, z. B. ein Liebespaar, eine Gruppe oder die ganze Menschheit.

Man erkennt das lyrische Wir an den Pronomen ‚wir‘, ‚unser‘ oder ‚uns‘.

Beispiel: lyrisches Wir
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

(Rainer Maria Rilke, „Schlußstück“, 1902)

Implizites lyrisches Ich

Beim impliziten lyrischen Ich kommen die Pronomen ‚ich‘, ‚mein‘, ‚mir‘ oder ‚mich‘ nicht im Text vor. Man erkennt es aber an der Art und Weise, wie im Gedicht gesprochen wird.

Geht es in einem Gedicht z. B. um Wahrnehmungen, Gedanken oder Gefühle, kann man auf ein implizites lyrisches Ich schließen, auch wenn es nicht ‚ich‘ sagt.

In dem Gedicht „Grodek“ (1914) von Georg Trakl ist z. B. davon die Rede, dass Wälder von Waffen „tönen“ und die Sonne über Ebenen und Seen „düstrer hinrollt“.

Solche subjektiven, d. h. persönlich gefärbten Wahrnehmungen deuten auf ein implizites lyrisches Ich hin, das im Gedichttext seine Erfahrungen beschreibt.

Beispiel: implizites lyrisches Ich
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.

(Georg Trakl, „Grodek“, 1914, Strophe 1 )

Auch in Gedichten, die in der Du-Form geschrieben sind, kann man häufig auf ein implizites lyrisches Ich schließen.

Beispiel: implizites lyrisches Ich (Du-Form)
Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

(Johann Wolfgang von Goethe, „Über allen Gipfeln“, 1815)

Der Sprecher des Gedichts beschreibt hier die Ruhe über den Gipfeln und redet die Lesenden an zwei Stellen mit „du“ an.

Diese Art der persönlichen Anrede ergibt nur nur zwischen Personen Sinn. Daher kann man den Sprecher auch hier als implizites lyrisches Ich auffassen.

Tipp
Im Rahmen einer Gedichtanalyse oder Gedichtinterpretation werden häufig auch formale Merkmale wie das Reimschema und/oder das Metrum untersucht.

Unter dem Reimschema  versteht man das Muster, nach dem sich die Versenden in einem Gedicht reimen.

Das Metrum ist der Rhythmus in einem Gedicht, der durch die regelmäßige Abfolge betonter und unbetonter Silben entsteht.

Lyrisches Ich im Gedicht: weitere Beispiele

Hier findest du zwei weitere Beispiel-Gedichte mit einem lyrischen Ich.

Beispiel: explizites lyrisches Ich
Es zogen zwei rüst’ge Gesellen
Zum erstenmal von Haus,
So jubelnd recht in die hellen,
Klingenden, singenden Wellen
Des vollen Frühlings hinaus.
Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten, trotz Lust und Schmerz,
Was Rechts in der Welt vollbringen,
Und wem sie vorübergingen,
Dem lachten Sinnen und Herz. –
Der erste, der fand ein Liebchen,
Die Schwieger kauft’ Hof und Haus;
Der wiegte gar bald ein Bübchen,
Und sah aus heimlichem Stübchen
Behaglich ins Feld hinaus.
Dem zweiten sangen und logen
Die tausend Stimmen im Grund,
Verlockend’ Sirenen, und zogen
Ihn in der buhlenden Wogen
Farbig klingenden Schlund.
Und wie er auftaucht’ vom Schlunde,
Da war er müde und alt,
Sein Schifflein das lag im Grunde,
So still war’s rings in die Runde,
Und über die Wasser weht’s kalt.
Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir;
Und seh ich so kecke Gesellen,
Die Tränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ uns liebreich zu dir!

(Joseph von Eichendorff: „Die zwei Gesellen“, 1818)

In den ersten fünf Strophen des Gedichts „Die zwei Gesellen“ (1818) von Joseph von Eichendorff bleibt das lyrische Ich implizit.

Jemand spricht und berichtet von „zwei rüst’gen Gesellen“ (Strophe 1, Vers 1) und dem gegensätzlichen Verlauf, den ihre beiden Leben nehmen.

Erst in der letzten Strophe spricht das lyrische Ich dann auch über sich selbst und seine Gefühle, wie man an dem Reflexivpronomen „mir“ (Strophe 6, Vers 2) erkennen kann.

Insgesamt kann man hier also von einem expliziten lyrischen Ich sprechen, auch wenn dieses erst in der letzten Strophe deutlich wird.

Beispiel: implizites lyrisches Ich (du-Form)
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

(Kurt Tucholsky, „Augen in der Großstadt“, 1930, Strophe 1)

In diesem Beispiel redet ein implizites lyrisches Ich die Lesenden bzw. die anderen Großstadtbewohner mit „du“ an.

Wie sagt man lyrisches Ich auf Englisch?

Im Englischen wird das ‚lyrische Ich‘ als ‚speaker‘ (= Sprecher/Sprecherin) bezeichnet. Die Academy of American Poets schreibt zu diesem Begriff in ihrem Online-Glossar:

Englisches Original:
„The speaker of a poem is the voice of the poem, similar to a narrator in fiction. […] The term speaker clarifies the distinction from the poet’s perspective and the perspective they use in the poem.“

Deutsche Übersetzung: 

„Der Sprecher/die Sprecherin eines Gedichts ist die Stimme des Gedichts, ähnlich dem Erzähler in fiktionalen Texten. […] Der Begriff ‚speaker‘ verdeutlicht die Unterscheidung zwischen der Perspektive des Dichters/der Dichterin und der Perspektive, die er/sie im Gedicht verwendet.“

(Quelle: Academy of American Poets)

Häufig gestellte Fragen zum lyrischen Ich

Wie schreibt man lyrisches Ich richtig?

Die richtige Schreibweise lautet ‚lyrisches Ich‘:

Das Adjektiv ‚lyrisches‘ wird kleingeschrieben.

Ich‘ ist ein Personalpronomen, das als Substantiv verwendet wird. Es muss daher großgeschrieben werden.

Tipp:

Wenn du unsicher bist, ob ein Ausdruck groß- oder kleingeschrieben wird, kannst du die kostenlose Rechtschreibprüfung von QuillBot ausprobieren.

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Alexander Schnorbusch, M.A.

Alexander hat Philosophie und Literarisches Schreiben studiert und promoviert aktuell an der Hochschule für Philosophie München. Er schreibt über Grammatik, Stil und effektiven Sprachgebrauch.