Enjambement (Stilmittel): Definition, Beispiele, Wirkung
Das Enjambement ist ein Stilmittel, bei dem ein Satz oder Gedanke über die Versgrenze hinausgeht. Es kommt vor allem in Gedichten vor und wird auch ‚Zeilensprung‘ genannt.
Die Funktion eines Enjambements besteht darin, eine Verbindung zwischen zwei Versen herzustellen. Die Monotonie des in vielen Gedichten vorherrschenden ‚Zeilenstils‘ wird dadurch aufgebrochen und Versende und -anfang werden hervorgehoben.
Verschiedene Arten von Enjambement
Es gibt verschiedene Arten von Enjambements. Dabei kommt es darauf an, an welcher Stelle im Verstext der Zeilensprung erfolgt.
Die wichtigsten Arten von Enjambement, die so unterschieden werden können, sind:
- glattes (schwaches) Enjambement
- hartes (starkes) Enjambement
- Strophen-Enjambement
- morphologisches Enjambement
Glattes (schwaches) Enjambement
Bei dem glatten (schwachen) Enjambement erfolgt der Zeilensprung zwischen zwei syntaktischen Einheiten.
Damit sind Wortgruppen gemeint, die nur zusammen Sinn ergeben und beim Umstellen eines Satzes normalerweise nicht getrennt werden.
Entsprechend bilden glatte Enjambements häufig die Sprechpausen der natürlichen Sprache nach, die ebenfalls zwischen syntaktischen Einheiten erfolgen.
Das obige Beispiel enthält insgesamt vier glatte Enjambements. Die syntaktischen Einheiten stehen dabei jeweils für sich in einem Vers und werden nicht getrennt.
‚Als ob der liebe Gott gestorben wär‘ und ‚An der wir sterben müssen‘ sind Nebensätze und daher als syntaktische Einheiten leicht zu erkennen.
Doch auch Verbalphrasen (‚Lastet grabesschwer‘) oder Nominalphrasen (‚Wie in Särgen‘) stellen syntaktische Einheiten dar. Sie stehen hier ebenfalls jeweils für sich in einem Vers.
Hartes (starkes) Enjambement
Beim harten (starken) Enjambement erfolgt der Zeilensprung dagegen innerhalb einer syntaktischen Einheit.
In dem folgenden Gedicht von Bertolt Brecht werden zum Beispiel die einzelnen Wörter einer Nominalphrase (‚Nichts / von dem‘) durch einen Zeilensprung getrennt.
Im Unterschied zum glatten Enjambement erfolgt der Zeilensprung hier an einer Stelle, an der man beim Sprechen normalerweise keine Pause machen würde.
Der Unterschied wird besonders deutlich, wenn man das harte Enjambement mit dem glatten Enjambement vergleicht, das den vorletzten mit dem letzten Vers verbindet (‚Wenn mein Glück aussetzt / Bin ich verloren‘).
Strophen-Enjambement
Beim Strophen-Enjambement erfolgt der Zeilensprung am Ende einer Strophe. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein glattes oder ein hartes Enjambement handelt.
In modernen und zeitgenössischen Gedichten kommen Strophen-Enjambements häufig vor. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht „Einer jener klassischen“ von Rolf Dieter Brinkmann, in dem alle Strophen durch Enjambements verbunden sind.
Morphologisches Enjambement
Bei dem morphologischen Enjambement erfolgt der Zeilensprung innerhalb eines einzelnen Wortes, das somit getrennt und auf zwei Verse aufgeteilt wird.
Die Bezeichnung ‚morphologisches Enjambement‘ bezieht sich auf den Begriff der ‚Morphologie‘. Darunter versteht man in der Linguistik die Lehre von der Wortform.
In der Morphologie werden Wörter in ihre kleinsten grammatischen Bestandteile (‚Morpheme‘) zerlegt und untersucht.
In ähnlicher Weise lenkt auch das morphologische Enjambement die Aufmerksamkeit auf einzelne Wortbestandteile (hier: ‚baum-‘ und ‚-hoher‘).
Enjambement: Wirkung und Funktion in Gedichten
Ein Enjambement erfüllt in Verstexten die Funktion, zwei Verse miteinander zu verbinden und so den in vielen Gedichten vorherrschenden Zeilenstil aufzulockern.
Die Abweichung von der Norm des Zeilenstils bewirkt dabei, dass Versende und -anfang hervorgehoben werden.
Diese beiden Wirkungen (Auflockern des Zeilenstils und Hervorhebung von Versende und -anfang) gelten für alle Enjambements.
Abhängig von der Art des Enjambements und dem Bezug zum Inhalt kann ein Zeilensprung jedoch auch noch andere Wirkungen haben. Er kann zum Beispiel
- Spannung aufbauen,
- Pointen setzen,
- den Lesefluss beschleunigen/verlangsamen oder
- bildhafte Wirkungen erzeugen.
Ob diese Wirkungen vorliegen oder nicht, lässt sich nur im Einzelfall und nach einer genaueren Analyse feststellen.
Spannung aufbauen
Gedichte liest man gewöhnlich Vers für Vers. Obwohl sich der jeweils nächste Vers bereits im Sichtfeld befindet, liest man ihn erst, wenn er ‚an der Reihe‘ ist.
Enjambements können daher genutzt werden, um Spannung aufzubauen. Die Wirkung ist hier vergleichbar mit einem ‚Cliffhanger‘ im Film, bei dem man die Auflösung einer spannenden Situation erst in der nächsten Szene oder Folge erfährt.
Das ‚Warte nur!‘ im vorletzten Vers klingt wie eine Drohung. Was genau ‚balde‘ passieren wird, erfährt man jedoch erst im nächsten Vers.
Pointen setzen
In ähnlicher Weise kann ein Enjambement auch dazu benutzt werden, einen Überraschungseffekt zu erzeugen bzw. eine Pointe zu unterstreichen.
In diesem Fall wird ein Satz im nächsten Vers auf eine Weise ergänzt, die man nicht erwartet und die einen zum Nachdenken anregen oder zum Lachen bringen soll.
Die Pointe besteht darin, dass das lyrische Ich, nachdem es ‚Haien entrann‘ und ‚Tiger erlegte‘, nicht von einem noch gefährlicheren Tier gefressen wird, sondern von ‚Wanzen‘.
Durch die kurze Pause am Ende des dritten Verses wird diese Pointe unterstrichen und ihre Wirkung verstärkt.
Lesefluss beschleunigen/verlangsamen
Eine weitere mögliche Wirkung des Enjambements besteht darin, den Lesefluss zu beschleunigen.
Um den Satzanfang zu verstehen, muss man bei einem Enjambement am Versende weiterlesen. Die übliche Pause am Versende wird dadurch verkürzt oder verschwindet ganz.
Im folgenden Beispiel steigert das Enjambement so die Dynamik zwischen den Versen und unterstreicht das Thema des Sturmwinds, der dem lyrischen Ich durch die Haare weht.
Ein Enjambement kann den Lesefluss jedoch auch verlangsamen. Dies gilt insbesondere für das morphologische Enjambement, bei dem ein einzelnes Wort getrennt wird. Beim Lesen führt dies meist zu einer kurzen Irritation, man gerät ins Stocken.
Das Stocken, das der Zeilensprung hier verursacht, lässt sich deuten als der kurze Moment in der Zeit, den die Hütte Bestand hat, bevor sie ‚fort- / getragen‘ wird.
Bildhafte Wirkungen
Manchmal werden Enjambements auch verwendet, um bildhafte Wirkungen zu erzeugen. Der Zeilensprung veranschaulicht hier ein inhaltliches Motiv des Gedichts.
Das Enjambement spiegelt hier das inhaltliche Motiv der Sturmflut. So wie das Meer an Land ‚hüpft‘, hüpft auch der Satz über das Versende hinaus in den nächsten Vers.
In diesem Gedicht, das nur aus einem einzigen langen Satz besteht, veranschaulichen die Enjambements das Fließen des Wassers über die Beckenränder der Fontäne.
Häufig gestellte Fragen zum ‚Enjambement‘
- Welche Arten von Enjambement gibt es?
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Je nachdem, an welcher Stelle im Text das Enjambement steht, lassen sich folgende Arten unterscheiden:
- Glattes (schwaches) Enjambement: zwischen zwei syntaktischen Einheiten
- Hartes (starkes) Enjambement: innerhalb einer syntaktischen Einheit
- Strophen-Enjambement: zwischen zwei Strophen
- Morphologisches Enjambement: innerhalb eines Wortes
- Was sind Beispiele für ein Enjambement?
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Das Gedicht „Komm in den totgesagten Park“ von Stefan George enthält mehrere Enjambements:
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade.
Der reinen wolken unverhofftes blau ↩
↪ Erhellt die weiher und die bunten pfade.Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau ↩
↪ Von birken und von buchs, der wind ist lau.
Die späten rosen welkten noch nicht ganz.
Erlese küsse sie und flicht den kranz.Vergiss auch diese letzten astern nicht.
Den purpur um die ranken wilder reben ↩
↪ Und auch was übrig blieb von grünem leben ↩
↪ Verwinde leicht im herbstlichen gesicht. - Welche Wirkung hat ein Enjambement im Gedicht?
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Ein Enjambement stellt eine Verbindung zwischen zwei Versen her. Es lockert dadurch den in vielen Gedichten vorherrschenden Zeilenstil auf und bewirkt eine Hervorhebung von Versende und -anfang. Dies gilt für alle Enjambements.
Abhängig von der Art und dem Bezug zum Inhalt kann ein Enjambement aber auch noch andere Wirkungen haben. Zum Beispiel:
- Spannung aufbauen
- Pointen setzen
- den Lesefluss beschleunigen/verlangsamen
- bildhafte Wirkungen erzeugen
Ob diese Wirkungen vorliegen oder nicht, lässt sich nur im Einzelfall und nach einer genaueren Analyse feststellen.
- Wie kann man Enjambements deuten?
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Bei der Deutung eines Enjambements geht es darum, seine Form und Wirkung auf den Inhalt des Gedichts zu beziehen.
Beispiel:
Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß’ gleich einer Mänade den Sturm ↩
↪ Mir wühlen im flatternden Haare;In dieser Strophe aus dem Gedicht „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff verkürzt das Enjambement die Sprechpause am Versende und erzeugt so Dynamik.
Dies lässt sich als Entsprechung des Sturms deuten, der dem lyrischen Ich auf dem Turm durch die Haare weht.
- Was ist der Unterschied zwischen einem glatten (schwachen) und einem harten (starken) Enjambement?
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Bei einem glatten (schwachen) Enjambement erfolgt der Zeilensprung zwischen zwei syntaktischen Einheiten. Bei einem harten (starken) Enjambement erfolgt er dagegen innerhalb einer syntaktischen Einheit.
Mit ‚syntaktische Einheit‘ sind zusammenhängende Wortgruppen gemeint, die man beim Umstellen eines Satzes normalerweise nicht trennt und innerhalb derer man beim Sprechen gewöhnlich keine Pause macht.